Leseprobe I – Bartelmann und der Ernst des Lebens

Leseprobe I aus dem „Rechtspfleger Grothjahn“ – Bartelmann und der Ernst des Lebens:

Grothjahns Vater hatte in der Vorstadt eine Gastwirtschaft, in der verschiedene Gesangvereine tagten. Mit den Dirigenten dieser Vereine hatte Heinrich Freundschaft geschlossen. Er hatte sie zuweilen vertreten und in den Gesangstunden am Flügel unterstützt. Sie hatten ihn in seinem Künstlertraum bestärkt und ihm den Kopf heiß gemacht. Heimlich hatte er sich schon vor bestandenem Examen Prospekte von Konservatorien kommen lassen. Vater Grothjahn blieb fest. Er hatte im geschäftlichen Leben trübe Erfahrungen gemacht und wollte für seinen Sohn eine sichere Existenz haben. Es gab für ihn nichts anderes: Der Junge muss Beamter werden.

Der Junge war gehorsam und fügte sich, zumal sein Vater sagte: „Wenn du Beamter bist, kannst du deine geliebte Kunst, die zum Broterwerb nicht taugt, nebenbei genug zum Vergnügen ausüben. Die Beamten haben ja so viel Zeit. Das siehst du ja an Bartelmann.“

Bartelmann war ein alter Junggeselle und von Beruf Kanzlist beim Amtsgericht. Er war seit langem der getreueste Stammgast der Grothjahn’schen Wirtschaft. Neben dem grauen Kater Paul, der immer in der Ofenecke lag, gehörte auch Bartelmann zum lebenden Inventar der Wirtschaft. Jeden Nachmittag zur gewohnten Stunde stelzte mit langen Schritten der Gerichtkanzlist Bartelmann, der am Amt den Spitznamen „Millionenwilli“ führte und hier im Kreise der Gäste und Wirtsleute „Backmeier“ genannt wurde, durch den hübschen Vorgarten in sein Stammlokal, das er nicht vor Schluss der Polizeistunde verließ. Er sprach stets platt und sagte: „Ick mutt doch sehn, wat de Letzte för’n Büx anhett.“

Er selbst trug zu seinem Kammgarnschwenker eine braungestreifte Hose. Sie war mit einem Leibriemen so hoch geholt, dass die Strippen der Zugstiefel bei jedem seiner Riesenschritte hervortraten. Der Leibriemen hatte seine besondere Bedeutung: Er galt als Stützpunkt für Gerichtsakten, die Millionenwilli als Hausarbeit mitbrachte und in Ermangelung einer Aktentasche zwischen Hose und Weste schob. Je nach der Menge der Arbeit war sein Aussehen mehr oder weniger imposant. Von Haus aus war er hager und mager. Bartelmann trug zuweilen, namentlich wenn er Außendienst hatte, schief aufgesetzt einen Zylinderhut, der ziemlich ruppig aussah. In der Rechten hielt er einen dünnen Spazierstock, mit dem er herumfuchtelte und seine drastischen Redensarten unterstrich.

„Millionenwilli“ war eigentlich eine boshafte Bezeichnung, da Bartelmann am chronischen Dalles litt, der bei seinem geringen Gehalt und seinem großen Durst nicht weiter verwunderlich war. Die fehlenden Millionen suchte er durch Hausarbeit – Seite zehn Pfennige – zu erreichen. Die Hausarbeit, die er am Wirthaustische im Eiltempo erledigte, genügte trotz allen Fleißes aber kaum zur Bestreitung seines Bierkonsums. Er hatte jedoch eine Menge Wohltäter, die gerne für ihn ein Glas Bier ausgaben, wenn er so drollig aus seinem Leben erzählte.

„Backmeier“ hieß er, weil er bei der Immobilienabteilung des Amtsgerichts tätig war und dort das Amt hatte, Häuser anzubacken, d.h.: die Zwangsvollstreckungsschilder anzubringen.

Bartelmann hatte seinem Stammwirt verraten, dass das Amtsgericht jetzt „Einjährige“ für die mittlere Beamtenlaufbahn haben wolle. Spornstreichs hatte sich Vater Grothjahn in die Stadt begeben und im Sekretariate des Amtsgerichts Rücksprache genommen.

Als Heinrich Grothjahn, der immer noch gehofft hatte, dass sein Lebensschiff doch den von ihm gewünschten Kurs nehmen möge, von seiner Schulentlassungsfeier nach Hause kam, empfingen ihn seine Eltern schon im Garten. Beide strahlten vor Stolz und Freude.

„“Junge““, sagte Vater Grothjahn, „“hast du ein Glück, du sollst dich am Montag mit deinen Zeugnissen dem Herrn Oberamtsrichter Dr. Thostedt vorstellen; er kann dich gebrauchen.““

‚Ob ich wohl ein brauchbarer Beamter werde mit meinen Idealen?’, dachte Heinrich und ging in sein Stübchen, eine schräge Dachkammer im ersten Stock. Er stieß das Fenster auf und blickte in die Baumkronen, die das Schieferdach streiften, und hinab in den Nachbargarten. Hier wandelte zwischen den Beeten von Astern und anderen Herbstblumen ein Backfisch von vierzehn Jahren. Der braune Lockenkopf des jungen Mädchens mit dem hübschen Gesicht, aus dem zwei vergnügte Augen schalkhaft in die Welt sahen, wandte sich beim Geräusch des Fensteröffnens nach oben.

„“Guten Tag, Heinrich!““ rief sie fröhlich. „Ich gratuliere zum bestandenen Examen.“

„“Danke, Grete!““

„“Nun geht es wohl bald nach Sondershausen auf das Fürstliche Konservatorium?““

„“Nein, Grete“, das wird nichts. „Mein alter Schuldiener sagt übrigens ‚Krematorium’ dazu. Ich muss ja auch wohl mein Talent verbrennen und begraben lassen.““

„„Warum denn?““

„“Ich soll Beamter werden.““

„„Beamter? Wo denn?““

„“Beim Amtsgericht!““

„“Beim Amtsgericht, das trifft sich ja gut. Mein Bruder Hans ist gestern dort auch angenommen worden. Ich wollte es dir noch erzählen; er hat große Lust. Fein, dann werdet ihr ja Kollegen. Das muss ich ihm gleich sagen. Ich muss auch noch Klavier üben. Auf Wiedersehen, Heinrich! Viel Glück!““

„„Wiedersehen, Grete!““