Leseprobe II – Der Referendar

Leseprobe II aus dem „Rechtspfleger Grothjahn“ – Der Referendar

Die Zivilabteilung 15 befand sich in einem entlegenen Winkel des dritten Stockes des Gerichtsgebäudes. Das Personal der Gerichtsschreiberei bestand aus sechs Personen, dem Gerichtsschreiber und seinem Vertreter, der die Amtsbezeichnung Gerichtsschreibergehülfe führte, einem Gerichtskanzlisten, zwei Angestellten und dem Gerichtsdiener.

Heinrich Grothjahn wurde von dem Büroleiter, dem Gerichtsschreiber Leimers, auf das Freundlichste empfangen und dem Personal vorgestellt. Nachmittags, nach Schluss der Sitzung, die Leimers als Protokollführer wahrgenommen hatte, wurde er auch dem Amtsrichter Dr. Eilees vorgestellt. Der Richter war mit der Dekretur beschäftigt und fragte Heinrich, kaum aufblickend: „Haben Sie Ihr Vermögensverzeichnis mitgebracht?“

Heinrich wusste nicht, was diese Frage zu bedeuten hatte, die er aber getrost verneinen konnte. Unwillig sah der Amtsrichter hoch und Leimers legte sich ins Mittel und bedeutete, dass der junge Mann nicht zwecks Ableistung eines Offenbarungseides vorgeführt, sondern zum Zwecke der Vorstellung erschienen sei. Der Richter musste lächeln und begrüßte Heinrich.

War es schon auf der Amtsgerichtskasse kurzweilig gewesen, so war das noch in größerem Maße hier der Fall. Die Arbeit war interessant, es gab viel zu hören und zu sehen und außerdem war Heinrich ja jetzt auch im richtigen Gerichtsbetriebe.

Leimers war ein kleiner, schneidiger Herr in mittleren Jahren. Er war nur klein, aber ein Gernegroß. Darum trug er auch wohl stets einen Zylinder. Im Gerichtsgebäude liebte er es, in der Amtsrobe, mit weißer Krawatte und Barett, umherzugehen. Er kannte aber sein Fach und gab Heinrich die beste Anleitung.

Hervorragend tüchtig war auch der examinierte Gerichtskanzlist, der lange Karl Hinsch. Auch von ihm konnte Heinrich viel für seinen künftigen Beruf lernen. Sonst empfahl es sich nicht, es in allem Hinsch gleich zu tun. Er hatte eine hervorstechende Eigenschaft: Er konnte ein Pferd totärgern. Es fanden sich auch genug Opfer ein; sein größtes Opfer saß hinter ihm, der Bürogehilfe Piesow.

Piesow gehörte zu der Kategorie von Menschen, die sich nicht wohlfühlen, wenn sie nicht geärgert werden. Piesow kam auf seine Kosten, denn Hinsch sorgte schon dafür, dass er nicht aus dem Ärger herauskam. Und das übrige Personal der Gerichtsschreiberei trug nach Kräften dazu bei.

Schon morgens bei der Begrüßung fing es an. „Morgen, Piesoff“, sagte Hinsch, worauf Piesow stets erklärte: „Das W ist stumm.“ Anschließend daran machte Hinsch gewöhnlich abfällige Bemerkungen über Piesows Äußeres, über sein Privatleben oder Fehler in der Arbeit und schon war der Krach im Gange.

Es ging daher in der Gerichtsschreiberei sehr lebhaft zu. An ein ruhiges Arbeiten war in den Vormittagsstunden überhaupt nicht zu denken. Das lag aber hauptsächlich an einem Organisationsfehler. Aus sämtlichen Anwaltsbüros kam in jede Gerichtsschreiberei morgens ein Schreiber oder Bote, um Nachfrage zu halten oder Sachen abzuholen. Die Tür ging fortwährend auf und zu. Und hatte auf der Kasse das ewige „Mark“ „Mark“ „Mark“-Sagen gestört, so störte hier das ewige „Guten Morgen“-Sagen.

Es kamen auch Leute, die nicht „Guten Morgen“ sagten, und statt sich darüber zu freuen, wurde das von dem Personal noch unangenehm vermerkt. So ärgerte sich Hinsch unausgesetzt jeden Tag über den Referendar Berkholtz, der dem Amtsrichter Dr. Eilees zur Ausbildung überwiesen war. Der Referendar hatte das gewöhnliche Schreibervolk nicht auf Rechnung und sagte nur Leimers „Guten Morgen“, in dessen Zimmer er auch erst nach Passierung der Kanzlei seine Kopfbedeckung abnahm. Es nützte nichts, dass das Personal der Kanzlei im Chor „Guten Morgen, Herr Referendar“ sagte. Er blieb bei seinem Verhalten. Und doch wurde er eines Tages eines Besseren belehrt. Als er an diesem denkwürdigen Tage am Platze des Gerichtskanzlisten Hinsch stand, um von diesem Akten notieren zu lassen, die er mitnehmen sollte, beeilte Hinsch sich wenig, sondern erledigte mit Seelenruhe die in den Akten noch zu erledigenden Arbeiten, obgleich der Referendar vor Ungeduld hin und her wippte, ohne den Hut vom Kopf zu nehmen.

Hinsch drehte sich nach Piesow um und fragte: „Piesoff?“ – „Das W ist stumm“, schaltete Piesow ein -, „war es hier nicht immer Mode, dass die Leute, die sich in diesem Zimmer aufhalten, den Hut abnehmen?“

Diese Äußerung hören und wutentbrannt Beschwerde führend in das Nebenzimmer stürzen, war für den Referendar die Sache eines Augenblicks.

„Was ist der Herr und wie heißt der Herr?“ schrie er erregt.

„Ich bin Gerichtskanzlist und Hinsch heiß ich.“

Vor dem vorletzten Wort schaltete Hinsch – wie er sonst zu tun pflegte – keinen Gedankenstrich ein, um seine Antwort wirkungsvoller zu gestalten.

Es entwickelte sich eine lange Auseinandersetzung im Gerichtsschreiberzimmer. Leimers stand seinem Kanzleipersonal bei und betonte, dass auch er die Nichtachtung beobachtet hätte, die der Referendar zur Schau getragen hätte. Der Streit wurde beigelegt. Der Referendar sagte kleinlaut, er wolle in Zukunft auch immer „Guten Morgen“ und „Adieu“ sagen.

„Dann können wir gleich anfangen, Herr Referendar, adieu, Herr Referendar.“